Wir leben scheinbar in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspanne immer geringer wird und in der zugleich immer mehr Menschen immer schneller und ungefilterter ihre Meinung zu Dingen sagen, über die sie eigentlich wenig Wissen und Erfahrung haben können. Als moderne Menschen bilden wir uns zwar immer noch ein, mit dem Kopf zu denken und mit dem Herzen zu fühlen, aber wie ist es heute tatsächlich damit bestellt? Wir mögen nicht mehr viel in Büchern lesen. Wir mögen nicht mehr so viel nachdenken. Wir mögen anderen auch nicht mehr so lange intensiv zuhören. Aber selbst reden und andere „zutexten“ mit unseren Angelegenheiten, das tun wir manchmal schon.
In dieser Situation stellt der Soziologe Hartmut Rosa die These auf, dass es in unserer Demokratie nicht nur erforderlich ist, dass Menschen ihre Stimme erheben – ihre Meinung tun sie mittlerweile in den sozialen Netzwerken ja zuhauf kund – sondern, dass sie auch zuhören können, und mehr noch, dass sie mit einem hörenden Herzen zuhören, damit eine Resonanz entstehen kann.
Hörendes Herz – Resonanz – was soll das sein?
Anders als moderne Menschen stellt sich die hebräische Bibel vor, dass wir mit dem Herzen denken und hören; dies bedeutet, dass wir auch wirklich verstehen, was wir hören. So bittet der junge König Salomon den Gott Israels, dem gegenüber er sich als seinen Knecht bezeichnet, um ein hörendes Herz:
„Verleihe daher deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht.“ (1 Könige 3,9) – Und wenn in einem Klassiker der Literatur Antoine de Saint-Exupéry den kleinen Prinzen sagen lässt, dass man nur mit dem Herzen gut sehen kann, das Wesentliche aber für die Augen unsichtbar bleibt, dann bedeutet dies auch, dass das Herz – und nicht das Gehirn – Ort der Erkenntnis ist.
Aber wie können wir ein solch hörendes Herz entwickeln?
Anstatt unsere Unfähigkeit anderen zuzuhören und uns selbst kurz zu fassen als Defizit zu begreifen, haben wir schnell eine Rechtfertigung parat: So meinen wir, dass das, was wir selbst wenig kennen oder wovon wir kaum etwas (bzw. nichts) verstehen, auch nicht so wichtig sei; bestenfalls; nach unserem Urteil, kann dies auch in fünf Minuten abgehandelt werden. Demgegenüber halten wir oft das, womit wir uns selbst auskennen für so wichtig, dass wir darüber ununterbrochen reden können und nicht recht verstehen oder es als ablehnend empfinden, wenn andere uns dabei nur begrenzt oder gar nicht mehr zuhören mögen.
Das Fatale ist, dass beide Haltungen zugleich von Unwissenheit, von Ignoranz, und von Überheblichkeit, von Arroganz, zeugen:
Denn wenn wir nicht viel wissen, aber denken schnell urteilen zu können, gleichen wir Menschen, die in ein anderes Land reisen, die Sprache nicht oder kaum verstehen, aber schon nach drei Tagen zu wissen meinen, wie „die Spanier“, „die Inder“ oder „die Amis“ ticken. Das ist nicht nur Ignoranz, sondern auch Arroganz.
Und wenn wir auf einem Gebiet viel wissen und andere damit zutexten, gleichen wir einem Fachlehrer, der bei seinen Schülern höchst akribisch alle Fehler korrigiert, der in seinem Besserwissen nicht mehr gut wahrnimmt, was für seine Schüler selbst wirklich wichtig ist und wie sie empfinden. Auch die Bedeutung seines eigenen Faches zu überschätzen, ist nicht nur Arroganz, sondern auch Ignoranz.
Wie kann nun Ignoranz und Arroganz entgegengewirkt werden? Zunächst einmal mit einer pädagogischen Maßnahme. Als Lehrerin nenne ich so etwas „didaktische Reduktion“. Das bedeutet, die Dinge, die mir wirklich als wichtig erscheinen, für diejenigen, die sich damit nicht auskennen in einfacher Sprache kurz zusammenzufassen. Okay, vielleicht nicht in fünf, aber in zehn Minuten. Und auf der anderen Seite mir die Mühe zu machen, auch einmal über fünf Minuten hinaus mein Ohr weit aufzuspannen, Worte aufzunehmen, und Sinnzusammenhänge zu begreifen und auch empathisch nachzuspüren, was dem oder der anderen über den Inhalt hinaus so wichtig an seinem/ihrem Thema ist.
Aber ist dieses Bemühen um besseres Zuhören schon die ganze Lösung?
Die philosophische Erkenntnis, dass wir ‚Mut haben sollen uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen‘ (Kant) und zugleich zu wissen, dass unser Wissen nur begrenzt ist, kann uns vor falscher Ignoranz und Arroganz bewahren. Denn mir einzubilden, dass ich nichts mehr zu wissen und zu lernen brauche, ist eigentlich die höchste Form von Ignoranz. Andererseits aber ist, so Sokrates, die Erkenntnis, dass ich im Grunde nichts weiß, keine Ignoranz, sondern sogar die höchste Form von Weisheit. Diese philosophische Erkenntnis kann dann zur Entwicklung von echter Resonanz führen: Sie liegt darin, dass eine/r seine/ihre Stimme erhebt; dass der/die andere zuhört; und dass dies Zuhören mit einem „hörenden Herzen“ geschieht, d.h. mit Empathie und Bereitschaft sich von den Worten des andern treffen und öffnen und auch transformieren zu lassen.
Dann bin ich wie ein/e Reisende/r in ein anderes Land, der/die sich wirklich für Land und Leute interessiert, sich um die fremde Sprache bemüht und gespannt auf Begegnungen mit anderen Menschen ist, und der/die sich erst nach längerer Zeit ein Urteil über all das vordem Fremde erlaubt. – Oder ich bin wie eine Fachlehrerin, die im Dialog mit ihren anderen Kollegen steht, die gegenüber ihren Schüler*innen nicht nur doziert, sondern auch von und mit ihnen lernt und von ihnen nicht nur fachkundig, sondern auch empathisch zuhörend wahrgenommen wird.
Erst wenn wir in diesem Sinne über ein vernunftbetontes Zuhören und hinaus auch ein hörendes Herz, ein empfindendes Wahrnehmen des Anderen entwickeln, dann stehen wir im Raum der Resonanz. Denn dann haben wir wie König Salomon eine Weisheit erlangt, die uns die Aufgabe wahrnehmen lässt zu unterscheiden zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht; wichtig und unwichtig.
Kurz: Die Weisheit des hörenden Herzens ist die höchste Form der Resonanz, die zu entwickeln, wertzuschätzen und zu pflegen unsere Aufgabe ist, gerade in diesem, unserem schnelllebigen Zeitalter.