Hildegards visionäre Theologie ist eigentlich ein zu großes Thema für einen Artikel oder eine einzige Autorin. Da ich mich diesem Unterfangen aber in meinem Workshop während der internationalen Tagung gestellt habe, will ich hier das Ergebnis dieses Gespräches und meiner Überlegungen seitdem zur Disposition stellen. Allerdings bin ich damit noch nicht am Ende. Wenn ich hier also einige – vielleicht manchen traditionellen HildegardfreundInnen im deutschen Kontext neu oder gewagt scheinende – Überlegungen in den Raum stelle, dann um damit das Gespräch über die große Heilige weiter anzuregen. Gleichzeitig möchte ich statt vorzugeben, selbst im Besitz der perfekten Hildegardauslegung zu sein, in aller Offenheit die Leser lieber um ihre eigenen Beobachtungen und um weitere Korrekturvorschläge bitten. Ich präsentiere hier also ein „Work in Progress“ und daher im besten “Sinne etwas „Hildegardisches“, denn nach Hildegard sollen Gott und Mensch – in dieser Zeit der Heilsgeschichte nach der Menschwerdung des Wortes Gottes – gemeinsam synergetisch an der Errichtung der Stadt Gottes und damit am Erlösungsgeschehen arbeiten. Dazu möchte ich beitragen.
Der Tagungs-Workshop ging ganz schlicht von der Frage aus, was wir in der Theologie von der alten und doch erst frisch promovierten Doktorin der Kirche lernen können. Fasziniert von Hildegards kosmischer, ganzheitlicher oder weiblicher Theologie sowie von ihrer Bedeutung innerhalb der Geschichte der Heilkunde und Medizin, reflektierten wir auf der Basis unseres jeweiligen konfessionellen, spirituellen oder feministischen Hintergrunds und unserer unterschiedlichen Zugänge und Kenntnisse mittelalterlicher und theologischer Forschungen in der englisch- oder deutschsprachigen Literatur zu Hildegard in den letzten drei Jahrzehnten seit ihrem 800. Todesjahr 1979. Mir selbst schien die Grundlage meines eigenen Verständnisses profund zu sein. Als Übersetzerin der ersten englischsprachigen Hildegard-Monographie von Barbara Newman2 habe ich Theologie in Deutschland und in Amerika studiert und, basierend auf meiner langjährigen Beschäftigung mit mystischen Frauentraditionen3 und meiner theologischen Promotion zur feministischen Spiritualität4, habe ich 2009 das Scivias-Institut für Kunst und Spiritualität e.V. gegründet, das zu dieser internationalen Tagung eingeladen hat.5 Aber das wichtigste war mir an dieser Stelle, dass ich seit März 2010 monatlich eine Meditation zur Scivias an diesem Ort des Rupertsberger Gewölbes, d.h. am originalen Ort von Hildegards ehemaligem Kloster in Bingen, gestaltet habe. Bei diesen Abendmeditationen haben wir in Folge und ohne Auslassungen die Visionen der Scivias in der von Hildegard vorgegebenen Ordnung betrachtet und besprochen. Dies hat mich schließlich dazu geführt, über die Systematik ihrer visionären Theologie eingehender zu reflektieren.
Bestärkt sehe ich mich in diesem Ansatz durch Äußerungen von Prof. Berndt SJ und Sr. Dr. Maura Zátonyi OSB. Beide haben die Causa Hildegardis für Rom erstellt, und beide haben seitdem immer wieder auf den Summencharakter der Theologie Hildegards verwiesen, der mit den scholastischen Werken von Hugo von St. Viktor oder Thomas von Aquin verglichen werden könne. So hat Sr. Maura davon gesprochen, dass Hildegard „in ihrem Gesamtwerk eine umfassende ganzheitliche Darstellung der Wirklichkeit“ entfaltet und dass bereits ihr Erstlingswerk, die Scivias, nicht nur enzyklopädisches Wissen bietet, sondern „eine klare Strukturierung der Glaubenslehre“ aufweist. Und sie resümiert:
Mit diesem heilsgeschichtlichen Gesamtentwurf fügt sich Hildegards Scivias in die Summenliteratur und stellt eine bemerkenswerte Ausgestaltung dieser literarischen Gattung dar.6
Sr. Maura hat an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt, was an Hildegards Entwurf bemerkenswert ist. Genau dieser Frage aber möchte ich im Folgenden weiter nachgehen, um sozusagen Hildegard als Theologin auf die Spur zu kommen. Dabei muss allerdings noch etwas vorausschickt werden.
Es scheint uns heute ganz selbstverständlich, nach Hildegards Theologie zu fragen, dennoch sollten wir uns vergegenwärtigen, dass dies in der Geschichte theologischer Wissenschaft relativ neu ist. So erinnert uns die Historikerin Barbara Beuys an die Tatsache, dass Hildegard zu ihren Lebzeiten als Theologin ignoriert wurde:
Mochten Äbte und Erzbischöfe ihre visionären Bücher in den höchsten Tönen preisen, die Shriften fanden trotzdem keinen Eingang in die akademische Welt… Die Magister der Domschulen von Trier und Köln, Mainz und Bamberg, ganz zu schweigen von Paris oder Lüttich, empfahlen ihren Schülern die Bücher der Magistra vom Rupertsberg nicht zur Lektüre.7
Und die amerikanische Religionswissenschaftlerin Barbara Newman erinnert an die Folgen dieser Ignoranz bis ins 20 Jahrhundert:
Es ist noch nicht lange her, da die Theologie Hildegards von Bingen als eine Art Kuriosität in der Kirchengeschichte abgetan werden konnte und ihr selbst der Status einer Alibifrau eingeräumt wurde, welcher sie im Grunde marginalisierte. Das ist vorbei und in den letzten Jahrzehnten hat diese außergewöhnliche Frau schließlich auch einige Beachtung in der englischsprachigen Welt gefunden. Dennoch… Gegegnet uns Hildegard allzu häufig als eine ungewöhnliche Erscheinung, die durch die Weite ihrer Bildung und Fähigkeiten fasziniert, die aber ihrem eigenen Kontext merkwürdig entrückt scheint. Kaum ein Mediavist würde ihr heute einen Platz in der Geschichte der Spiritualität, der Medizin oder der Musik verweigern, aber bei dem Versuch, das Ganze ihres Lebens und Werkes in Augenschein zu nehmen, lässt sich Hildegard von Bingen schwer verorten. Daher bleibt die Frage, in welchem Kontext die Reichhaltigkeit ihrer Texte am ehesten verstanden werden kann. Am häufigsten wird Hildegards Werk vor dem Hintergrund der „weinlichen Mystik“ gesehen. 8
Mit den Argument, dass wir wenig von Hildegard verstehen „wenn wir sie vornehmlich als Teil einer ‚weiblichen Tradition betrachten, in der sie selbst die Hauptfigur ist“9, schließt sich Barbara Newman dieser gängigen Zuordnung nicht einfach an. Vielmehr verortet sie Hildegard auf m.E. überzeugende Weise in der jüdisch-christlichen Weisheitstradition.
In diesem Artikel möchte ich jedoch nicht einfach bloß Barbara Newmans Position weiter ausmalen. Angeregt durch den Hinweis von Sr. Maura Zátonyi möchte ich vielmehr die Frage nach dem bemerkenswerten Charakter von Hildegards Theologie grundlegend stellen und fragen:
Für weitere Informationen laden Sie bitte das Dokument herunter:
Dr. Annette Esser: Hildegards visionäre Theologie, 2013-2017